Frühe Reife: wenn Kinder mit erkrankten Eltern aufwachsen
Kurz nach der Geburt ihres Sohnes im Alter von 20 Jahren erhielt Annette Wenz die Diagnose chronisch myeloische Leukämie (CML). Ihr Leben wechselte vom Moment des größten Glücks hin zu einem Zustand des ewigen Kampfes mit einer lebensbedrohlichen, chronischen Erkrankung, die sie ein Leben lang begleiten soll.
Sohn Domenic bekommt von den dramatischen Ereignissen der ersten Jahre nichts mit. Schritt für Schritt beginnt die Krankheit aber auch sein Kindsein zu bestimmen, denn die Mutter ist und bleibt in dauerhafter Behandlung.
Welche Auswirkungen es auf das Leben eines Angehörigen hat, mit einem krebskranken Elternteil aufzuwachsen, das beschreibt Domenic Wenz in einem spannenden Interview. Er öffnet den Blick darauf, wie Kinder zum Begleiter eines Menschen mit Krebs werden.
Wann hast du von der chronischen Leukämie deiner Mutter erfahren?
So richtig ins Bewusstsein ist mir gekommen, als es hieß, dass ich jetzt zu Oma und Opa ziehen muss und dass meine Mutter in stationäre Behandlung kommt. Da war ich, glaube ich, dreieinhalb, vier.
Welches Verständnis hattest du vom Ausmaß der Situation?
Wie fühlt man sich, wenn einem gesagt wird, dass die Mutter krank ist? Man kann das Gewicht, was dahintersteht, nicht wirklich nachvollziehen. Es ist auf jeden Fall so, dass Kinder da ein gewisses Schutzschild haben und da in gewissen Zügen auch behütet sind, weil sie die Tragweite der Krankheit noch gar nicht erkennen können. Als Kind ist man in seinen Gedanken immer beim nächsten Schultag, beim nächsten Wochenende, den nächsten Herbstferien, und man macht sich keine Gedanken darüber, was im nächsten Jahr ist oder im übernächsten Jahr – während dann die Krankheit definitiv sagt, es kann sein, dass du das nächste Jahr nicht mehr erlebst.
Wir gestaltete sich das neue Zusammenleben nach langer Therapiezeit?
Also der Alltag ging nicht sofort normal weiter. Das erste Mal, als ich meine Mutter wiedergesehen habe, hatte sie natürlich eine Glatze und eine Mütze auf. Also ich habe das glaube ich als Kind nicht so gewertet. Man hört die Stimme, man fühlt die Vertrautheit wieder. Und dann merkt man wieder, dass es seine Mutter ist. Sobald man die Stimme und die Nähe wieder hat, ist das eigentlich schon alles nichtig, wie das Aussehen ist.
Wie wurde über die Ersthaftigkeit der Krankheit gesprochen?
Es wurde immer deutlich und offen kommuniziert, aber definitiv auch altersgerecht, so dass ein Kind damit zumindest in den groben Stücken umgehen kann, warum jetzt die Mutter in der Reha ist oder warum man jetzt mal wieder vier Wochen bei Oma und Opa zu Besuch ist oder auch mal ein paar Monate, wenn es länger dauert. Also ich denke, da wurde sich früher schon sehr viel Mühe gegeben, mich da in gewissen Dingen zu beschützen.
Wie wichtig ist es, Kinder in die Krankheitssituation einzubeziehen?
Eltern sollten das definitiv offen kommunizieren mit ihren Kindern, sollten aber gleichzeitig ihren Kindern vermitteln, dass auch ihre kindlichen Probleme oder die Probleme eines Jugendlichen genauso von Gewicht sind und sie auch bei diesem Problem unterstützen. Natürlich ist die Krankheit ein viel größeres Problem. Das versteht aber das Kind in seinem Alter einfach noch nicht. Und dementsprechend sollte auch dem Kind vermittelt werden, dass seine kleineren Probleme immer noch Probleme sind, und ihm sollte dabei dann geholfen werden.
Hast du als Kind Verlustängste gehabt?
Zukunftsängste, Verlustängste, so was hat sich erst über die Zeit entwickelt. Der erste Schockmoment, wie man, wenn man das einem Erwachsenen erzählt, ist mir als Kind definitiv erspart geblieben. Aber über die frühen Jugendjahre hat sich definitiv das Thema Verlustängste oder Zukunftsängste weiterentwickelt, so dass es immer mal ein Thema in meiner Jugend war. Wenn dann zum Beispiel schlechte Nachrichten kommen, die Mutter am Weinen ist und am Esstisch sitzt und über irgendeinem Befund sich jetzt wieder den Kopf zerbricht oder am Weinen ist, dann realisiert man als Kind, es ist wieder irgendwas schief gegangen oder es ist eine schlechte Nachricht gekommen.
Was hat dir Stärke im Umgang mit Ängsten gegeben?
Einer meiner definitiven Mutmacher war immer die Musik. Und ich habe mich sehr früh in Rhythmus und in den Bass speziell verliebt, so dass das immer ein prägendes… – es war immer eine mentale Stütze für mich und es begleitet mich auch nach wie vor heute. Ich entspanne dabei. Es baut mich auf. Ob laute Metal- oder Jazzmusik oder so – es kann ganz vielseitig sein. Gleichzeitig habe ich mich dann irgendwann beschäftigt mit Meditation, so dass sich da immer ein gesundes Maß gefunden habe, mich irgendwie auszugleichen und mir selber Mut zu machen.
Konntest du deine Mutter unterstützen?
Wirklich zur Seite stehen konnte ich ihr als Kind nicht. Sie war immer eine starke Frau oder sie hat mir immer gezeigt, dass sie eine starke Frau ist und wie man so die klassische Löwenmutter kennt, versucht sie immer ihr eigenes Junges zu beschützen, anstatt dem Kleinen gegenüber Schwäche zu zeigen. Dementsprechend hat sich nie das Gefühl, als müsste ich sie unterstützen. Sie hat dann immer von sich aus gesagt: Es reicht, dass du da bist.
Welche Unterstützung gab es in der Schule?
Also die Krankheit wurde definitiv den Lehrkräften immer kommuniziert. Aber auch die können mit der Krankheit nicht großartig umgehen. Man erhält keine Sonderbehandlung, nur weil gesagt wird, dass die Mutter krank ist. Da fehlt einfach auch das Hintergrundwissen zur Krankheit.
Hast du aufgrund der erkrankten Mutter eine frühere Reife entwickelt?
Man wird natürlich sehr früh man mit sehr krassen Wahrheiten konfrontiert, die nicht jeder mit 6, 7 oder 8 Jahren hat, wo gesagt wird, es kann sein, dass deine Mutter nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Ja, man lernt früh, dass das Leben endlich ist und dass es nicht immer von Dauer sein muss.
Hat die andauernde Krankheit euer Verhältnis belastet?
Unser Verhältnis ist heute ziemlich gut, würde ich sagen. Wir stehen uns sehr nahe, wie beste Freundin, bester Freund. Wir quatschen sehr viel. Wir telefonieren eigentlich täglich. Das war eine Zeit lang mal anders, aber das war auch einfach der Sache geschuldet, dass man als Jugendlicher oder als junger Erwachsener einfach mal probiert, auch eine gewisse Distanz für sich zu erarbeiten und einfach mal das Leben etwas unbeschwerter als in den Kindheitstagen zu erleben.
Wie häufig sprecht ihr noch heute über die Krebserkrankung?
Wir reden seit 25, knapp 30 Jahren über dieses Thema und dementsprechend würden andere jetzt geschockt auf dieses Thema reagieren, während wir darüber reden, als hätten wir ein Hobby. Das ist so ein bisschen – es gehört zwar inzwischen zum Alltag dazu, dass man auch darüber reden muss.
Hat die Leukämie eine positive Veränderung in deinem Leben bewirkt?
So eine Krankheit ist natürlich nie gut. Aber die Erfahrungen, die über Jahre daraus gewachsen sind, möchte ich heute nicht missen. Also es macht einen vielleicht früh alt, aber grundsätzlich lernt man sehr viel übers Leben dazu.
Awareness-Monat
Blutkrebs
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der Serie des Awareness-Monats „Blutkrebs“. Weitere spannende Interviews, Artikel und Talk-Sendungen finden Sie in der Übersicht zum Blutkrebs-Monat.
- timer ca. 7 Minuten
- person Domenic Wenz
- coronavirus Leukämie (chronisch)
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