Kraft erhalten durch Kraft schenken
Wenn Annette Wenz ihre Geschichte erzählt, wird schnell deutlich, wie sehr im Leben der schönste und der traurigste Moment eng beieinander liegen können: Als sie im Alter von 20 Jahren ihren Sohn Domenik geboren hat, war sie überglücklich. Alles schien perfekt zu laufen. Doch zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sich ihr Leben kurze Zeit später durch einen Schicksalsschlag noch einmal grundlegend ändern sollte. Die Ärzte diagnostizierten bei ihr eine chronisch myeloische Leukämie (CML).
Seit 34 Jahren bestimmt die Erkrankung nunmehr ihr Leben. Im Interview mit Stephan Pregizer erzählt sie, wie sie immer wieder Kraft im Ehrenamt findet. Als gelernte Kosmetikerin und Visagistin bringt sie bei Schminkkursen wieder Zuversicht in das Leben vieler Krebs betroffener Frauen und schenkt ihnen neue Kraft.
Mit den deutschlandweit stattfindenden Seminaren der DKMS-Life Look good – feel better schenkt Annette anderen viel positive Energie. Sie sagt:
Es lohnt sich zu kämpfen und mit einem Hauch von Farbe wieder ein Lächeln zu erhalten!
Für 20 Jahre ehrenamtliches Engagement erhielt sie 2016 einen Charity-Preis.
Das Interview zum Nachlesen:
Moderator: Herzlich willkommen meine Damen und Herren. Manchmal liegen im Leben die schönsten und die traurigsten Momente ganz eng beieinander, wie unser heutiger Gast zu erzählen weiß. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes Dominik hat Annette im Alter von 20 Jahren die niederschmetternde Diagnose Leukämie erhalten. Wie sie durch diese und andere schwere Lebenskrisen ging und es geschafft hat, mit vier Rückfällen umzugehen, wird sie uns im Interview gleich erzählen. Die gelernte Kosmetikerin und Visagistin sagt: „Es lohnt sich zu kämpfen und mit einem Hauch von Farbe wieder ein Lächeln zu bekommen.“ Jetzt freuen wir uns, dass sie heute hier ist und im roten Survivor Chair Platz genommen hat. Herzlich willkommen, Annette Wenz.
Annette Wenz: Ich freue mich auch sehr hier sein zu dürfen.
Moderator: Annette, sei so lieb, erzähle uns deine Geschichte. Wie war dein Leben vor der Krebserkrankung?
Annette Wenz: Da ich in Köln geboren bin, habe ich eine Leichtigkeit und eine Frohnatur schon in die Wiege gelegt bekommen. Und deswegen war mein Leben vorher ja wie eine Feder so leicht.
Moderator: Wie kam es zur Diagnose Leukämie?
Annette Wenz: Ich habe 1989 im November meinen Sohn zur Welt gebracht. Wie es für einen Rheinländer sich gehört auch am 11.11. Man hat gedacht, man geht so weiter in das Leben, mit dem Kind zusammen und auch mit dem Ehepartner. Das war leider nicht an dem, weil am- genau ein halbes Jahr später, einen Tag vor meinem Geburtstag am 27. Juni 1990 hat man dann eine chronisch myeloische Leukämie diagnostiziert.
Moderator: Wie geht man damit um, wenn man im Alter von 20 Jahren eine solche folgenschwere Diagnose erhält?
Annette Wenz: Das hat mich gelähmt und hat mir auch ja den Boden unter den Füßen weggezogen. Also man ist in so einer Schockstarre, wo man überhaupt nicht realisiert, was das alles mit sich bringt.
Moderator: Woher kommt die Kraft, den ersten Schritt des Weges zu gehen?
Annette Wenz: Die Kraft war immer mein Kind. Ich hatte Angst. Es hat mir sehr viel Angst gemacht, aber ich habe gelernt, damit zu leben und ich habe es integriert. Auch immer wieder es zu erzählen, auch wenn es mancher nicht hören will. Das ist was, was ein Manko in meiner Familie war. Es wollte niemand darüber reden und damals war halt auch diese Schiene noch nicht so ausgebaut, dass ich einen Anlaufpunkt gehabt hätte. Dass man mir gesagt hätte, du gehst jetzt mal vorher zu einem Psychologen, der dich da stabilisiert, der dir da hilft.
Moderator: Hast du das Gefühl, dass deine Eltern damals überfordert waren mit der Situation?
Annette Wenz: Ja. Definitiv. Also, ich bin damals in die Knochentransplantation gegangen und man ist davon ausgegangen, dass ich hinterher nach Hause komme und es ist alles so wie vorher. Und es hat sich einfach dann auch niemand mehr damit beschäftigt. Es war nochmal zusätzlich eine Belastung zu wissen, dass da jetzt niemand ist, der mich auffängt und wo ich dann den Halt kriege. Ich habe dann irgendwann mit einer Therapie begonnen. Das findet auch heute immer noch statt, um das Ganze halt aufzufangen und zu verarbeiten. Weil ich bin selber Mutter und für mich ist eins ganz klar: egal was mit meinem Sohn wäre, ich wäre immer und jederzeit für ihn da.
Moderator: Wie geht man damit um, zunächst bei einer Diagnose Leukämie keine Handlungsoptionen zu haben?
Annette Wenz: Ich bin halt immer davon ausgegangen, dass es irgendeinen Lösungsvorschlag in irgendeiner Schublade gibt, der mich da schon wieder rausholt. Also habe ich mir über die Tragweite überhaupt gar keine Gedanken gemacht. Also mir stand- es stand auch nie in der Frage, ob das gut geht oder nicht. Es stand für mich immer fest, dass ich weiterleben werde.
Moderator: Hat man das Gefühl, dass vorher die Krankheit schon mal im Körper ganz viel ausrichtet und dass jetzt nochmal etwas von außen kommt, etwas Fremdes, was wieder eine extreme Reaktion bei einem hervorruft?
Annette Wenz: Man hat meinem Körper eine große Menge an Knochenmark entnommen. Hat das in Stickstoff eingefroren, als Lebensversicherung, wenn ich das neue Knochenmark abgestoßen hätte. Und ich habe mich halt an dieser Stickstoffreserve festgehalten und habe immer gedacht, wenn das jetzt nicht funktioniert, was das da jetzt mit mir tut, dann möchte ich das bitte wiederhaben, damit ich wieder ich bin. Weil auch die Ganzkörperbestrahlung- man merkt, wie Kräfte schwinden, wie der Körper sich auflöst. Und dann gab es eine Hochdosis Chemotherapie hintendrauf. Weil man macht ja alles, was im Körper ist, tot. Und dann kommt der Tag Null, dann ist der Professor vor der Schleuse gestanden mit dem Koffer in der Hand und hat gesagt: „Ich fliege jetzt nach Frankreich mit dem Hubschrauber und hole dein neues Leben.“ Und hat dann halt das Knochenmark abgeholt, frisch aus Frankreich. Das Mädel lebt in Cannes und ja- und hat mir dann diesen Blutbeutel da angehangen. Ich weiß bis heute nicht, wie es abgelaufen ist. Man hat gewartet auf Reaktionen, die dann auch kamen. Mein Vater hat das alles live miterleben müssen, weil, der hat die ganze Zeit an meinem Bett gesessen, hat mir die „Säulen der Erde“ vorgelesen. Ich musste das Buch hinterher nochmal lesen, weil, ich kann mich daran nicht erinnern.
Moderator: Wie geht das Annette? Wie schafft man das? Einmal den Krebs bereits überlebt zu haben und dann kommt das erste Rezidiv, das zweite und das dritte und jetzt sogar das vierte?
Annette Wenz: Da gab es einen kleinen Jungen und den gibt es immer noch. Da bin ich sehr stolz drauf. Das ist mein Sohn Dominik und ja- das war das- und das war derjenige, wo ich mich immer daran festgehalten habe und habe gedacht, du kannst das Kind nicht alleine lassen. Es ist sonst niemand da. Du möchtest ihn groß werden sehen und möchtest viel schöne Zeit mit ihm erleben und das tue ich es auch. Auch wenn er beruflich nicht bei mir in Augsburg lebt, ist er halt immer an meiner Seite und fragt auch immer nach, Mama, einmal am Tag, ob es mir gut geht. Und ja- das ist ein großer Halt in meinem Leben und das ist etwas, was ich auch niemals missen möchte.
Moderator: Mir drängt sich die Frage auf, wie lebt man 30 Jahre mit Krebs?
Annette Wenz: Ich streiche mir immer über den Arm und sage, er darf in mit wohnen, aber er muss die Füße stillhalten. Und wenn ich jeden Tag die Tragweite reflektieren würde, die mich da einholen kann, dann würde ich kaputt gehen.
Moderator: Das ist eine chronische myeloische Leukämie. Da liegt das Wort chronisch schon mit drin. Würdest du deine Krebserkrankung als eine chronische Erkrankung sehen?
Annette Wenz: Nach den vier Rezidiven muss ich ehrlich sagen, fühlt sich das anders an. Chronisch hört sich ja so an, als ist es still und es ruht. Ich schmeiße jeden Tag eine Chemokapsel ein.
Moderator: Worin hat die Krankheit dich verändert?
Annette Wenz: Es rücken andere Sachen viel stärker in den Fokus. Das ist halt ein gesundes Umfeld zu haben, was einem Kraft gibt, Freundschaften zu pflegen, eine Natur wahrzunehmen, ein Gras zu riechen-. Viele werden sich jetzt denken, was erzählt die da? Wenn man ein halbes Jahr voll isoliert war und kein Fenster aufmachen durfte, ist das ein Einschnitt ins Leben, wie im Gefängnis, nur die dürfen noch das Fenster aufmachen, die haben zwar Gitter davor. Ich konnte noch nicht mal ein Fenster öffnen. Da ist die Wahrnehmung, wie ich das erste Mal wieder nach draußen kam und habe Vogelgezwitscher gehört und habe die Wärme der Sonne gespürt und habe das Gras gerochen, das ist so-. Das kann man sich nicht vorstellen, wie das in einem arbeitet. Und dann fängt man an zu überlegen, was eigentlich gottgegeben ist und deswegen genießt man viele viele Momente in der ganz anderen Form, wie man das vorher getan hat.
Moderator: Du arbeitest seit über 20 Jahren im Ehrenamt und beziehst durch diese Tätigkeit jede Menge Energie. Du hast positive Erlebnisse mit den Frauen, denen du deine Kompetenz, deinen beruflichen Hintergrund zu Teil werden lässt. Magst du uns ein bisschen darüber berichten?
Annette Wenz: Ja, sehr gerne. Das ist mir auch eine Herzensangelegenheit. Bei mir ist es damals so entstanden, dass ich dann nach der Transplantation immer in die Ambulanz musste zu meinem Professor nach München und die Geschäftsführerin hat damals mich in der Ambulanz angesprochen und hat gesagt: „Mensch, ich habe gehört, Sie kommen aus Köln. Sie sind auch vom Fach. Sie sind Kosmetikerin und Visagistin. Hätten Sie nicht Lust, das mit uns aufzubauen?“ Die DKMS LIFE Seminare finden bei verschiedenen Ärzten oder auch an den Kliniken statt. Wir sind mittlerweile sehr sehr gut vernetzt deutschlandweit und diese „look good feel better“ Seminare laufen weltweit. Und ich habe mich dann noch mehr darüber gefreut, dass mein Arbeitgeber 2008 dann auch als Hauptsponsor da mit eingetreten ist. Weil die Patientinnen eine Tasche geschenkt bekommen, wo alle Produkte drin sind, von Pflege über Dekorative, mit dem Haarprogramm, mit der Anleitung auch, dass sie es zu Hause fortführen können und ja, da sind wir ganz ganz stolz darauf, dass wir da so tatkräftig auch unterstützt werden.
Moderator: Was erlebst du konkret in den Seminaren? Welche Reaktionen gibt es?
Annette Wenz: Ich habe zum Beispiel im letzten Seminar in Kassel eine Patientin gehabt, die hatte eine künstliche Nase, was ich zuerst überhaupt nicht gesehen habe. Und sie fragte mich dann, ja, sie hätte da so einen Übergang an der Nasenwurzel, ob man das ausgleichen könnte. Und wenn man dann das ihr zeigen, wie sie kaschieren, kann und wie man das schön ausarbeiten kann und man guckt in diese strahlenden Augen und weiß, was man der Frau gerade Gutes getan hat. Dann ist das für mich wie- es schnippt so viel Lebensenergie in mir an, dass es mir auch zeigt, dass es definitiv sich immer lohnt zu kämpfen.
Moderator: Also ich lerne gerade, indem was du sagst: Es ist mehr wie Schminken bei Krebs?
Annette Wenz: Definitiv. Es ist nicht nur eine soziale Kompetenz, sondern es ist das Fühlen, eine Struktur zu geben. Eine Augenbraue wieder dahin zu zaubern, wo sie hingehört. Da ist es ganz ganz wichtig, die Sicherheit zu geben und zu sagen: „Sie können ruhigen Gewissens irgendwo hingehen und auch den Spaß und die Freude daran haben.“
Moderator: In einem Satz. Was bekommst du aus diesem ehrenamtlichen Engagement?
Annette Wenz: Ich habe 2016 von meinem Arbeitgeber und der DKMS einen Charity Preis für 20 Jahre ehrenamtliche Arbeit bekommen, mit noch zwei anderen Kolleginnen. Ich bekomme eine wahnsinnige Wertschätzung, die mir hilft, immer wieder mich zu fokussieren, was die Krankheit mit mir gemacht hat und was sie mit mir macht.
Moderator: Annette, warum hast du speziell diese Location für unser Interview heute ausgesucht?
Annette Wenz: Ja, das Foto- und Schminkstudio spiegelt das wieder, was im Moment die Relevanz in meinem Leben hat. Und die Spiegel geben einem die Veränderungen im Leben zurück.
Moderator: Wenn du in einen dieser Spiegel schaust, welche Annette, die bald 50 wird, schaut aus dem Spiegel zurück?
Annette Wenz: Aus dem Spiegel schaut zurück eine Kämpfernatur, die auch weiter in der Position sein wird, zu fördern, dass es gerecht zugeht, bei allem was passiert.
Moderator: Was ist dein Tipp für andere Betroffene?
Annette Wenz: Ich muss sagen, sie sollten sich auf gar keinen Fall ins Bockshorn jagen lassen. Weil, wir haben kein gebrochenes Bein, sondern da geht es um ein Leben, um ein Menschenleben. Und da ist es immer wichtig, dass man sich auf die Hinterfüße stellt, um zu seinem Recht zu kommen.
Moderator: Wer ist dein Fels in der Brandung?
Annette Wenz: Mein Sohn. Das ist mein Fels in der Brandung. Der ja zaubert mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht wenn er sagt: „Na, alte Mutti, alles klar?“ Wir nullen alle beide dieses Jahr. Er wird 30, ich werde 50. Keiner meiner Ärzte hätte einen Pfifferling darauf verwettet, dass ich überhaupt so alt werde. Aber ich muss halt natürlich auch sagen, meine Ärzte, die mir das Leben gerettet haben, die sind natürlich auch für mich der Fels in der Brandung. Definitiv.
Moderator: Was magst du an der Annette, wie sie heute ist, besonders gern?
Annette Wenz: Ich bin mit meinen Aufgaben gewachsen und da bin ich sehr stolz drauf und das ist die Annette heute, die mit beiden Beinen im Leben steht und das Leben genießt.
Moderator: Annette, wir sind am Ende unseres Interviews angekommen. Lass dir herzlich Danke sagen. Es verlangt mir sehr viel Respekt und Wertschätzung ab für das, was ich gehört habe und wie ich dich erlebt habe. Und ich wünsche dir persönlich das Allerbeste. Und auf ein Wiedersehen jederzeit.
Annette Wenz: Vielen herzlichen Dank. Das hat mir ganz ganz viel bedeutet.
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- person Annette Wenz
- coronavirus Leukämie (chronisch)
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