Danke „Mama Lymphoma“ – der Kämpferin für die Selbsthilfe
Anita Waldmann hat in den vergangenen 30 Jahren die Selbsthilfebewegung in Deutschland und in Europa entscheidend mitgeprägt
Nach drei Jahrzehnten ist nun Schluss, Anita Waldmann ist glücklich, dass sie die Verantwortung für die Leukämiehilfe Rhein-Main nun in die Hände einer neuen Generation legen kann. Es waren 30 Jahre mit bewegenden und schönen Momenten, mit Trauer, Freude und Dankbarkeit. Mit 75 Jahren möchte sie endlich loslassen, obwohl es ihr schwer fällt. Es gibt so viele Erinnerungen und viele Dinge, die sie erreicht hat und auf die sie stolz sein kann.
Anita, danke von Herzen, dass Sie Ihre Kraft und Zeit der Selbsthilfe gewidmet haben! Danke für die Hilfen und Unterstützung, die Krebspatienten und ihre Angehörigen deswegen erhalten, weil Sie diese mit ermöglicht haben.
Kommentar Initiative CancerSurvivor
Wie ein Phönix stieg Anita Waldmann vor drei Jahrzehnten aus der Asche. Der Blutkrebs hatte das eigene Kind betroffen – im Dezember 1990. Oliver war damals 25 Jahre alt. Auf ihrer vergeblichen Suche nach Informationen über die Krankheit, den Krankheitsverlauf und Therapiemöglichkeiten entschied sie sich, selber aktiv zu werden und suchte geeignete Knochenmarkspender für ihren Sohn. Sie breitete ihre Flügel aus und flog los, damit sie ihren Sohn helfen konnte.
LHRM e.V.
Es gab kaum Unterstützungsmöglichkeiten für erwachsene Patienten. Also erstellte sie 1991 erste laienverständlichen Informationen, übersetzte Mediziner-Deutsch in Patienten-Deutsch. Sie gründete 1992 die „Selbsthilfegruppe Leukämiehilfe Rhein-Main“ in Rüsselsheim als konstante Anlaufstelle für Patienten mit Blut- und Lymphsystem-Erkrankungen und für deren Familien und Freunde. Damit trat sie eine Welle los, die sich bis heute verstärkte und unzähligen Menschen überlebenswichtige Informationen bereitstellte und Hilfestellungen ermöglichte.
Obwohl ihr Sohn Oliver seine Krankheit nicht überlebte, machte sie weiter. Sie musste selbst erleben, wie das ist, wenn ein Betroffener mit der Schockdiagnose konfrontiert wird und dann kaum Erklärungen und verständliche Erläuterungen erhält. Ihr Ziel: Information des Patienten und seiner Angehörigen. Ihre neue Selbsthilfegruppe traf sich zunächst gelegentlich. Später gab es regelmäßige Stammtische, erste Informationsblätter und schließlich die Leukämiehilfe Rhein-Main (LHRM) als gemeinnützige Institution.
Wer glaubt, damit hätte Anita Waldmann genug erreicht, irrt gewaltig. 1993 startete sie ihre Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft „Psychosoziale Krebsnachsorge Hessen“,
Krebsgesellschaft Hessen, DPWV-Hessen (Der Paritätische Wohlfahrtsverband) und KISS Pfalz (Beratungsstelle zu Themen der gesundheitsbezogenen und sozialen Selbsthilfe). 1994 gab sie ihre Berufstätigkeit auf, um sich Vollzeit ihrer ehramtlichen Tätigkeit zu widmen – mit über 4.000 Stunden im Jahr.
Als die Deutsche Leukämie-Hilfe (DLH) 1994 gegründet wurde, wurde Anita Waldmann Gründungs- und aktives Vorstandsmitglied. Hier war sie bis 2008 zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, Organisation, Finanzen, Personalwesen und Fortbildung.
Seit 1995 folgten weitere Gründungen von Selbsthilfegruppen, unter anderem in Aschaffenburg, Würzburg, Wiesbaden, Mannheim/Heidelberg-Rhein-Neckar, Villingen-Schwenningen, Darmstadt, Bad Homburg, Koblenz, Frankfurt/M, Bingen, Ulm, Regensburg.
1996 wurde sie als DLH-Vorsitzende Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe-Bundesorganisationen mit/nach Krebs (BARGE SHO) und Forum chronisch Kranker des Paritätischen Wohlfahrtverbandes (DPWV). 1997 gründete sie die SHG-AG Rüsselsheim, ein Netzwerk für über 40 Selbsthilfegruppen aus Rüsselsheim und Umgebung.
Neben diesen organisatorischen Gründungen engagierte sich Anita Waldmann in zahlreichen anderen Formaten – im Rahmen von Patienten-Kongressen und -Seminaren, in Selbsthilfegruppen-Leiterfortbildungen, bei der Unterstützung anderen Selbsthilfeorganisationen, des Selbsthilfe-Patientenbeirats der Deutschen Krebshilfe, der Gründung der „International Lymphoma Coalition“ (Internationaler Verbund von Selbsthilfe-Organisationen für Patienten mit Lymphomen u. Leukämien), als Mitglied des ECPC (Verbund von Europäischen Krebspatienten-Organisationen), der Gründung des Europäischen Kompetenznetzes „Akute und chronische Leukämien“ (Studiengruppe), des „Myeloma Euronet – Network of Myeloma Patient-Supportgroups“ (ein europäisches Netzwerk von Selbsthilfeorganisationen für Patienten mit Multiplen Myelom/Plasmozytom ihren Angehörigen und Freunde). 2005 wird sie Gründungsmitglied und Präsidentin des Myeloma Euronet und später Patientenvertreterin bei der EMA (Europäische Medizin Zulassungsbehörde).
Ihre ehrenamtliche Arbeit wurde zunehmend internationaler. 2010 hielt sie in Beirut (Libanon) einen Vortrag zum Thema „Was bedeutet Patienten-Vertretung?“. Anita Waldmann war oft in Brüssel und in anderen europäischen Städten anzutreffen, um auf europäischer Ebene die Selbsthilfe voranzubringen. So war sie beteiligt an der internationalen „MDS-Alliance“, EUPATI-Deutschland , WBMT Patient Advisory & Advocacy Committee, Lymphoma Coalition in Orlando (Florida), ALL-CAN (Akute Leukemia Advocates Network), Patient Advisory Boards (EBMT Lissabon).
Es ist verständlich, dass bei einem so großen Engagement wie dem von Anita Waldmann, Auszeichnungen und Preise folgten. Sie erhielt 2002 den 1. Mechthild-Harf-Preis (DKMS), das Bundesverdienstkreuz und wurde zur „Mama Lymphoma“ ernannt.
Blicken wir zurück auf den Ort, wo alles im Jahr 1991 begann: Heute ist die Leukämiehilfe Rhein-Main eine große Organisation mit eigener Geschäftsstelle in Rüsselsheim und 300 Vereinsmitgliedern. Es gibt viele Angebote, wie Patiententage, Gruppentreffen und Stammtische, die wegen der Hygieneauflagen derzeit oft virtuell stattfinden. Rund 4500 Beratungsgespräche führt die Leukämiehilfe jedes Jahr – telefonisch oder direkt in der Geschäftsstelle.
Und selbst das Internet ist vor Anita Waldmann nicht sicher. Sie hat einen Blog eingerichtet, in dem Betroffene ihre Erfahrungen schreiben können. Und auch bei Facebook postet sie regelmäßig aktuelle Informationen.
Hier schreibt sie Anfang September 2021 zu Ihrem Abschied aus der aktiven Arbeit: „Für mich war die LHRM wie eines meiner Kinder, für die ich mich mit Herzblut eingesetzt habe. Viele erfolgreiche Entwicklungen sind aber mehr oder weniger zufällig passiert. Man hat mich angesprochen, ob ich bereit wäre Dieses oder Jenes bei der Gründung oder beim Aufbau und Bekannt machen zu unterstützen und wenn ich den Bedarf gesehen habe, war es mir eine Freude Mitstreiter zu finden. Daraus entstanden sind die DLH und viele Internationale und Europäische Initiativen. Es war zwar oft anstrengend für mich, aber der stetige Erfolg hat mich auch immer mit neuer Energie versorgt. Dankbar bin ich den vielen Unterstützern, die mir etappenweise immer wieder den Rücken gestärkt haben. Nach nunmehr 30 Jahren ehrenamtlichen Einsatz für den Aufbau einer Patientenvertretung für erwachsene Patienten mit hämatologischen Erkrankungen und 27 Jahre als LHRM-Vorsitzende stehen mein Mann und ich nicht zur Wiederwahl bereit. Gesundheitliche und Altersgründe haben uns deutlich gemacht, dass es besser ist, den Verein jetzt in andere Hände zu übergeben. Uns fällt der Rückzug nicht leicht, aber jetzt können wir noch einige Zeit unterstützend im Hintergrund aktiv bleiben. Ich werde Sie alle sehr vermissen, freue mich aber auch auf unsere Zeit mit mehr Privatleben.“
„Farewell, liebe Anita, wir danken Ihnen von Herzen!“
Awareness-Monat
Blutkrebs
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der Serie des Awareness-Monats „Blutkrebs“. Weitere spannende Interviews, Artikel und Talk-Sendungen finden Sie in der Übersicht zum Blutkrebs-Monat.
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