Aus der Chemotherapie auf den Mount Everest
Der Achttausender als Belohnung
Die Diagnose „Darmkrebs“ im fortgeschrittenen Stadium kam für Bildhauerin und Bergsteigern Heidi Sand im Jahre 2010 völlig unerwartet! Am tiefsten Punkt in ihrem Leben, beschloss sie den höchsten Punkt der Welt zu erreichen. Nach ihrer Chemotherapie erfüllte sie sich ihren Traum und stand schon eineinhalb Jahre später auf dem Gipfel des Mount Everest (8.848 m). Im Gespräch mit Stephan Pregizer erzählt Heidi Sand wie es zu diesem außergewöhnlichen Vorhaben kam, welche Reaktionen es gab, wie ihre Krankheit ihr Leben beeinflusste und wie sie heute als CancerSurvivor lebt.
Das Interview zum Nachlesen
Einleitung:
Meine Damen und Herren, jeder Mensch hat eine ganz individuelle Geschichte und wer eine Krebserkrankung überstanden hat, hat eine ganz besondere. In unseren Gesprächen wollen wir das Licht und den Spot auf diejenigen lenken, die auf besondere Weise mit Krebserkrankungen umgegangen sind. Mut machen, “Ja” zum Leben sagen zu können. Anstöße geben, eine Krebserkrankung auch anders zu denken. Unser heutiger Gast vereint in ihrer Persönlichkeit künstlerisches und Abenteuerlust. Sie ist Bildhauerin und kam zum Höhenbergsteigen erst durch einen schweren Schicksalsschlag. Sie erhielt 2010 die Diagnose “Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium”. Als Mutter von drei Kindern resignierte sie jedoch nicht und kämpfte entschlossen gegen die Krankheit an. “Wenn alles gut ausgeht, besteige ich den Everest!” Es ging gut aus und sie erreichte ihr hochgestecktes Ziel, den Mount Everest, mit 8848 Metern. Sie hat ein Stück alpine Geschichte geschrieben, wie ich finde ein großartiges Stück.
Moderator: Herzlich Willkommen: Heidi Sand. Heidi, erzähl uns deine Geschichte. Wie war dein Leben vor der Krebserkrankung?
Heidi Sand: Ich war mit einer Leichtigkeit mit meinen Skulpturen beschäftigt, mit meinem Sport, mit meinen drei Kindern, die ich großgezogen habe und mit meinem Mann. Damals hatten wir noch einen Hund. Ja, das Leben war erfüllt.
Moderator: Wie kam es zu der Diagnose „Darmkrebs”?
Heidi Sand: Es war 2010. Im Mai stand ich auf dem Mount McKinley Ich war in meinem Element. Ich fühlte mich bärenstark. Dann kam es anders. Beim Abstieg fingen an mich Magenschmerzen zu plagen und kurze Zeit später, zuhause in Stuttgart, war ein Training nicht mehr möglich. Unweigerlich musste ich Montag morgens zum Arzt. Der wurde ziemlich blass, hat mich gleich dabehalten und am nächsten Morgen notoperiert. Der Tumor saß ganz am Ende des Darmes, es war wohl eine ziemlich knappe Geschichte. Er kam ein paar Tage später mit dieser Diagnose „Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium” zu mir ans Krankenbett. Mir hat das zunächst einmal komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich hab mit ihm gestritten, ich hab gesagt, er muss die falsche Akte in der Hand haben. Ich fühle mich eigentlich gut bis auf die Magenkrämpfe und ich dachte es wären irgendwelche Muskelverhärtungen. Er wiederholte dann nochmal die genaue Diagnose. Ich fühlte mich wie im falschen Film. Auch zum allerersten Mal, dass ich komplett ohne Bodenhaftung in meinem Bett lag. Ich war dann geschwächt von der OP und hab erstmal nur geheult wie ein Schlosshund.
Moderator: Was war die größte Herausforderung in dem Moment, als du die Diagnose erhalten hast?
Heidi Sand: Im ersten Moment war es die nächsten Minuten zu überleben, mit dieser Nachricht, mit der man bombardiert wird. Mit der man so überhaupt nicht rechnet. Ich war damals mit meinen 43 Jahren wirklich kein Kandidat für Darmkrebs. Ich war in meinem Leben noch nie übergewichtig, hab immer relativ viel Sport gemacht und mich gesund ernährt. Es hat auch definitiv eine Weile gedauert, bis ich wieder klar denken konnte. Am Anfang ist man wirklich wie im Nebel und hofft, dass die Tür aufgeht und der Arzt sagt „Sorry, wir haben uns getäuscht”.
Moderator: Wann realisiert man, Heidi, dass die Tür nicht aufgeht? Dass da keiner reinkommt und sagt, ich hab mich getäuscht als Arzt?
Heidi Sand:
Als man dann definitiv über Therapiemaßnahmen gesprochen hat. Da fing ich das erste Mal an zu realisieren, dass ich die Sache – die Krebserkrankung – angehe, wie ich eigentlich eine Bergtour plane. Welcher Berg ist es überhaupt? Wie kommt man dorthin? Wie kommt man wieder zurück?
Moderator:
Welche Jahreszeit?
Heidi Sand:
Welche Jahreszeit? Welche Kleidung braucht man? Das war die Zeit, als ich es akzeptiert habe. Wo ich es angenommen hab. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Mit was kann ich mich identifizieren? Welchen Weg will ich für mich gehen? Wie organisiere ich den Haushalt, meine Kinder, mein Atelier, die Workshops, die ich hatte?
Moderator:
Heidi, ich habe einen Auszug aus einem Buchtext mitgebracht, den würde ich dir gerne vorlesen. „Als wären Angst und das Gefühl der Machtlosigkeit nicht schlimm genug, fängt auch der Körper an verrückt zu spielen. Haare fallen aus. In vermeintlich unpassenden Momenten fließen Tränen. Manchmal steht auch die ein oder andere Freundschaft, oder die Beziehung auf dem Spiel.” Sind das Dinge, die dir bekannt vorkommen?
Heidi Sand:
Meine Gefühlswelt hat komplett verrückt gespielt. Ich musste wahnsinnig oft weinen, ohne einen Grund zu nennen. Es sind einfach dann Bereiche, wo man sich selber nicht mehr im Griff hat, die durch die Veränderung nicht mehr greifbar, spürbar waren. Und dann sitzt man in der Chemotherapie. Man schläft viel, man liest. Ich war zur Ruhe gezwungen. Und da kam zum ersten Mal so eine Vision auf: Wenn ich das hier überlebe, dann will ich mich mit einem Achttausender belohnen.
Moderator: Belohnen?
Heidi Sand: Belohnen! Mir wurde relativ schnell klar, ich brauche ein Ziel. Und das ist dann in diesem Fall keine neue Handtasche oder sowas gewesen und dann war der Gedanke mal da und dann hat er mich nicht mehr losgelassen.
Moderator: Das heißt, du warst im Grunde am tiefsten Punkt deines Lebens und wolltest zum Höchsten Punkt der Welt. Heidi, welche Reaktionen hast du von deinem Mann, von deinen Kindern, von deiner Familie aber auch von deinen Freunden und Nachbarn bekommen?
Heidi Sand: Ich glaub die kennen mich! Ich hatte schon früher, in einem anderen Ausmaß, ähnlich verrückte Ideen (lacht). Und mein Mann natürlich gleich „Was soll’s denn kosten?”, er ist ja Schwabe. Und dann, und das ist für mich nochmal so ausschlaggebend, mit diesem Ziel, mit diesem Traum lief ich auf Hochtouren. Ich fing an dann während der Chemotherapien wieder Sport auf leichtem Niveau zu treiben. Ich bin während der Chemotherapie wieder Joggen, Laufen gegangen.
Moderator: Was haben denn deine Ärzte gesagt, als du denen gesagt hast „Wenn ich hier raus bin, wenn ich hier fertig bin in sechs Monaten, bin ich auf dem Everest”?
Heidi Sand: Ja, ich hatte nicht nur Befürworter für mein Projekt, ich hatte auch viele, wo ich kämpfen musste oder mich rechtfertigen musste. Ihnen war es einfach nicht klar, wie man glücklicherweise den Krebs besiegen kann und sich dann freiwillig in so eine Gefahr begibt.
Moderator: Heidi, wie wurde denn dann aus dem Wunsch die Realität?
Heidi Sand: Ich kam nach Katmandu, in eine ganz andere Welt. Nepal gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Man merkt sofort man taucht ein in eine ganz andere Kunst, in eine ganz andere Kultur, in eine andere Religion. Und das alles war über mir, wie ein toller Bogen, der sich gespannt hat.
Moderator: Mit welchen großen Herausforderungen hattest du zu kämpfen?
Heidi Sand: Man fragt sich immer wieder: Ist man der Sache gewachsen? Technisches: Schaffe ich es tatsächlich bis oben? Wie reagiert mein Körper nachher oben, über 7000 m Höhe, über 8000 m Höhe? Man hat keine Erfahrung. Das ist das Ungewisse, was man bis oben mit sich trägt. Das weiß man erst am Schluss eigentlich.
Moderator: Also die Ungewissheit, was kommt auf einen zu. Kannst du Parallelen zur Diagnose „Frau Sand, Sie haben Darmkrebs” feststellen?
Heidi Sand: Es ist diese Ungewissheit, die bei jedem von uns im Leben jeden Moment zuschlagen kann. Es kann das Gesundheitliche sein, es kann eine Umstrukturierung im Berufsleben sein, im Alltag. Sofort, wenn man Sachen hört die man nicht hören will.
Moderator: Dann kam der 23. Mai 2012 und ihr seid aufgebrochen zum Gipfel des Mount Everest.
Heidi Sand: Wir waren irgendwie wie Rennpferde, die endlich starten wollten (lacht). Man will endlich los, nach über 6 Wochen Leben in dem Basislager. Man will los. Wir hatten einen zuverlässigen Wetterbericht, der sagte 5 Tage lang stabiles Wetter. Nicht zu kalt, keine Winde, kein Niederschlag. Mitten in der Nacht zieht man los, ist völlig mit sich selbst beschäftigt, seinen Gedanken Schritt für Schritt. Es ist immer noch die Ungewissheit bei einem, ob man es bis zum Gipfel schafft. Es gibt noch diese Schlüsselstelle, an dieser Etappe zu bewältigen: der Hillary Step. Ich hab nach dem Hillary Step kurz innehalten müssen, damit sich mein Puls wieder etwas beruhigt. Und dann hab ich es das erste Mal realisiert: Wow, das wird ziemlich sicher was mit dem Gipfel! Und am Gipfel -unweigerlich- die Tränen flossen. Es war um 4 Uhr morgens, noch stockdunkel, die Sterne zum Greifen nahe. Und da wurde es mir auch nochmal bewusst, es war wirklich eineinhalb Jahre her, nach meinem tiefsten Tief, jetzt auf dem höchsten Punkt der Welt -auf dem Dach der Welt- stehen zu dürfen. Da sieht die Welt gigantisch friedvoll aus. Wir haben dann den Sonnenaufgang miterlebt und das war das schönste Naturschauspiel, was ich je erlebt hab. Der Everest hat dann noch im ersten Morgenlicht einen Schatten geworfen und da wurde es mir gleich klar: Wow, ich will mit dem Höhenbergsteigen weitermachen. Es war so ein einzigartiger Moment. Ich war dankbar, dass alles geklappt hatte. Ich bin heute noch dankbar.
Moderator: Hast du denn dann – natürlich an deinen Mann gedacht, an deine Kinder – aber hast du da auch an deinen Arzt gedacht oder an die Nachbarn, die gesagt haben sowas macht man doch nicht.
Heidi Sand (lacht): Beim Abstieg dann, ja. Beim Abstieg natürlich.
Moderator: Hast du denn die Berge deinen Kindern gewidmet, deinen dreien?
Heidi Sand: Ja, da das alles so gut gepasst hat und wo ich vom Everest zurückkam, hab ich gesagt, ich würde gerne jedem meiner Kinder einen Achttausender widmen. Und mein Mann hat jetzt im Dezember die Eiger-Nordwand bekommen.
Moderator: Gab es auch den Gedanken unterwegs „Ich schaffe das nicht”?
Heidi Sand: Ich war nicht an meiner Grenze. An wirkliches Aufhören habe ich nie gedacht, nie.
Moderator: Was würdest du anderen Krebskranken raten: Wie setzt man sich gute, aber vor allen Dingen auch erreichbare Ziele?
Heidi Sand: Zunächst ist es einfach gut, man sieht die Krankheit als Chance. Nicht als Bedrohung, sondern als neue Chance sich neue Ziele zu setzen, neue Wege zu gehen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Ziele sollten machbar sein, aber natürlich eine gewisse Herausforderung bedeuten.
Moderator: Also keine Überforderung, aber auch keine Unterforderung.
Heidi Sand: Genau.
Moderator: Sondern eine Herausforderung.
Heidi Sand: Und dann muss man in sich rein spüren. Es ist ja oft auch eine Mischung zwischen Wunsch, Ziel und Vision, was man so hat. Also nicht jeder, der mich jetzt gehört hat, muss sich das Ziel setzen, auch auf den Mount Everest zu steigen. Aber Ziele sollten machbar sein, weil sonst enden sie als Enttäuschungen, wenn sie nicht erreicht werden.
Moderator: Heidi, Hand aufs Herz, wie sehr und worin hat dich die Krankheit verändert?
Heidi Sand: Vorher habe ich funktioniert und fühlte mich in meiner Rolle auch sehr, sehr wohl. Jetzt mache ich die Dinge viel konzentrierter, bewusster, entschleunige öfters. Heidi Sand war immer für alle da. Ich bin da entschlossener geworden mal „Nein” zu sagen.
Moderator: Also Grenzen ziehen?
Heidi Sand: Grenzen ziehen, dieses „nein, mir ist es zu viel”, was mir früher nie über die Lippen gekommen wäre.
Moderator: Wie, Heidi, gehst du mit dieser neuen Klarheit um? Welche Reaktionen gab es?
Heidi Sand: Viele Veränderungen gab es im großen Freundeskreis, viele haben sich abgewandt. Wussten auch nicht, wie mit der Situation umgehen, waren überfordert.
Moderator: Giltst du als geheilt?
Heidi Sand: Die magischen 5 Jahre sind geschafft. Nach der letzten Untersuchung habe ich wirklich ein kleines Fest gemacht und wir haben gefeiert. Ja, wir haben eine neue Ära eröffnet sozusagen.
Moderator: Wie lautet dein Lebensmotto? Wie ist dein Credo?
Heidi Sand: Da muss ich jetzt weinen. Also eins ist mir ganz wichtig: Verliere nie deinen Humor, möge kommen was soll. Und das zweite, ein ernsteres: Akzeptiere dein Gestern und Heute und du kannst morgen wieder frei durchstarten.
Moderator: Hat dein Leben eine andere Qualität bekommen?
Heidi Sand: Es ist die Intensität, die anders ist, es ist das Bewusstsein, die Wertschätzung. Jeden Tag wo man aufwacht und es geht einem gut, was überhaupt das Wort „Gesundheit” bedeutet. Weil es ist wirklich das beste, das größte Glück was uns passieren kann ist, wenn wir jeden Tag aufwachen und wir gesund sind.
Moderator: Heidi, was macht einen CancerSurvivor aus?
Heidi Sand: Also wir kriegen ja keinen Stempel drauf, dass wir jetzt CancerSurvivor sind. Aber ich glaube, was uns Betroffene alle verbindet, ist, dass wir freier, gestalterischer mit unserem Leben umgehen. Man sieht nach einer geraumen Zeit die Sache wieder klarer. Man zieht es durch. Man weiß, man darf seine Träume verwirklichen und man ist selbst viel wert, man ist kostbar. Man muss sein Leben spätestens dann selbst in die Hand nehmen, wenn es so weit ist um zu überleben und auf eine gute Art zu überleben. Einen Cut machen, Schluss machen mit den Sachen, die mir nicht gefallen haben und ich kann offen sein für neue Dinge, die ich schon immer als Lebenstraum hatte.
Moderator: Heidi, wir sind am Ende unseres Gesprächs angekommen. Mir bleibt, mich ganz herzlich bei dir zu bedanken, dass du uns mitgenommen hast auf diese wunderschöne Reise, auf diese beeindruckenden Erlebnisse, die du uns geschildert hast. Und sage ganz herzlichen Dank. Wünsche dir viel Gesundheit, alles Gute und immer sicheren Tritt bei deinen nächsten Bergtouren.
Heidi Sand: Vielen Dank, lieber Stephan.
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Heidi Sand im Podcast
Im DAK Gesundheit Podcast Ganz schön krank, Leute! spricht Heidi Sand eine Stunden lang über ihr Leben und ihren Umgang mit dem Krebs.
Muss man das Leben mal fast verloren haben, um es richtig wertschätzen zu können? Die Diagnose Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium war für Heidi Sand von den German Cancer Survivors ein schwerer Schicksalsschlag, aber zugleich auch der Startschuss in ihre Bergsteiger-Karriere. Es hat ihren Kampfgeist geweckt. „Wenn ich den Krebs besiege, werde ich den Mount Everest besteigen!“ Was aus ihrem Ziel geworden ist und welche Parallelen sie in einer Krebserkrankung zum Bergsteigen sieht, darüber erzählt sie in der heutigen Folge.
DAK Gesundheit
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