Von der Forschung bis zur Therapie
Wie kommt das Medikament zum Patienten?
Die Entwicklung neuer und besserer Therapien ist ein wichtiges Ziel vieler Forscher an Kliniken, Universitäten und in privatwirtschaftlichen Unternehmen. Oft kann ein neues Medikament nur dann entstehen, wenn alle drei Einrichtungen eng zusammenarbeiten, denn moderne Arzneimittel sind Hightech-Produkte. Forschung, Wissen und Erfahrung werden ergänzt durch neueste Analyse- und Synthesetechnik, gentechnische Labors, Hochleistungs-Computer, Analyseroboter und vieles mehr.
Was es alles braucht, damit ein Medikament erfolgreich beim Patienten zum Einsatz kommen kann, das möchten wir in diesem sehr umfangreichen Beitrag genauer beschreiben. Es ist spannend zu erkennen, wie komplex die Wege und Irrwege bis hin zum Apothekenregal sind.
Was muss beim Start eines Forschungsprojektes für die Behandlung von Blutkrebs beachtet werden?
Vor dem Start jedes Arzneimittelprojekts stellen sich viele Fragen, beispielsweise: Gibt es neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung darüber, wo man wirksamer als bisher in den Krankheitsverlauf eingreifen könnte? Lässt sich ein Medikament finden, das weniger Nebenwirkungen hat als die bisherigen? Wenn die Antworten positiv ausfallen, beginnt ein Prozess mit vielen hundert Einzelschritten, der im Schnitt mehr als 13 Jahre dauern kann.
Wie beginnen Sie Ihre Forschungsprojekte?
Zentraler Bestandteil jedes Medikaments ist sein Wirkstoff. Dieser Stoff erzielt im Körper eine heilende oder lindernde Wirkung. Die Forscher müssen erst einmal eine Stelle im Blutkrebs finden, an der ein Wirkstoff eingreifen könnte. In aller Regel ist das ein Molekül, das im Krankheitsprozess eine wichtige Rolle spielt. Die meisten Medikamente richten ihre Wirkung auf so genannte Enzyme oder Rezeptoren. Als Moleküle führen Enzyme im Körper alle chemischen Reaktionen durch, die im Körper ablaufen. Ohne sie könnten Menschen nichts verdauen, keine neuen Substanzen aufbauen, umformen oder wieder abbauen.
Rezeptoren sind die „Empfangsantennen“ einer Zelle. Sie empfangen Hormone und andere Botenstoffe aus verschiedenen Teilen des Körpers und geben Signale in das Zellinnere weiter.
An einer Erkrankung sind stets viele verschiedene Moleküle im Körper beteiligt, doch nur an wenigen kann ein Wirkstoff eingreifen. Mit anderen Worten: Nur wenige eignen sich als Ziel (Target) für ein Medikament. Diese unter den vielen Molekülen herauszufinden, ist schwierig. In manchen Fällen finden sich Hinweise auf aussichtsreiche Targets in der wissenschaftlichen Literatur oder in Patentschriften oder Forschergruppen berichten davon.
Konnte ein Target gefunden werden, suchen Wissenschaftler nach Wirkstoffen, die imstande sind, darauf einzuwirken. „Einwirken“ bedeutet, dass die Wirkstoffmoleküle sich an die Target-Moleküle anlagern und sie so am Funktionieren hindern. Manchmal müssen die Wirkstoffe ihr Target aber auch „anschalten“ können, damit der Behandlungseffekt eintritt. In der Mehrzahl der Fälle suchen die Forscher nach chemisch-synthetischen Substanzen mit der gewünschten Wirkung. In zunehmendem Maße entwickeln wir auch gentechnische Wirkstoffe.
Wie geht es jetzt weiter?
Wenn ein Wirkstoff gefunden wurde, muss er auch den Zielort im Körper erreichen, an dem er wirken soll, ohne vorher abgebaut oder ausgeschieden zu werden. Der Wirkstoff muss sich mit den Molekülen des Körpers verbinden, die im Krankheitsprozess eine wichtige Rolle spielen. Diese müssen dadurch entweder ab- oder angeschaltet werden – je nachdem, was für eine erfolgreiche Behandlung notwendig ist. Später muss er aber wieder vom Körper abgebaut oder ausgeschieden werden. Es soll sich im Körper anreichern und somit andere Organe schädigen. Auch dürfen die Nebenwirkungen nicht zu gefährlich werden. Gleiches gilt für Wechselwirkungen mit gleichzeitig eingenommenen anderen Medikamenten oder Nahrungsmitteln. Darüber hinaus muss das Medikament zuverlässig großtechnisch herstellbar sein. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, Substanzen zu finden, die diese und noch weitere Kriterien zugleich erfüllen. Die Forscher sind aber sehr erfolgreich: Mittlerweile konnten Medikamente mit mehreren tausend verschiedenen Wirkstoffen zugelassen werden. Auf jeden dieser Wirkstoffe kommt aber ein Vielfaches an Substanzen, die in Tests nicht alle Anforderungen erfüllten und deshalb aufgegeben werden mussten.
Wie lassen sich richtigen Moleküle finden?
Für einen neuen chemisch-synthetischen Wirkstoff müssen Hinweise gesammelt werden, welche Moleküle sich an das Ziel binden können, welche Eigenschaften sie haben müssen und ob sie bestimmte Atome und Atomgruppen unbedingt oder auch gar nicht enthalten sollten. Die Forscher untersuchen, ob es im Körper Moleküle gibt, die sich natürlicherweise an das Target binden. Wenn das der Fall ist, dann lässt sich ihre Form vielleicht für den Wirkstoff nachbauen. Die Forscher können Hunderttausende von unterschiedlichen Substanzen daraufhin durchtesten, ob sie sich an das Target binden können. Diese Technik heißt High-Throughput-Screening (HTS). Sie können das Target und all die Substanzen, die sie testen wollen, im Computer nachbilden und in einer Simulation aufeinandertreffen lassen. Dann spricht man von Virtual Screening.
Pharma-Unternehmen haben große Bibliotheken mit allen erdenklichen Substanzen. Diese können chemisch hergestellt oder aus Pilzen, Bakterien oder anderen Lebewesen gewonnen worden sein. Beim High-Throughput-Screening, dem Massentest, müssen kleine Mengen von jeder Substanz mit jeweils einer kleinen Menge Target-Moleküle in etwas Flüssigkeit zusammengebracht werden. Eine Farbreaktion oder ein anderer erkennbarer Effekt zeigt es dann an, wenn sich eine Substanz tatsächlich an das Target angelagert hat. Als Reaktionsgefäße für die Mischungen dienen tausende von „Näpfchen“ in handtellergroßen Plastikplatten, die jeweils nur ein paar Tausendstel Milliliter Flüssigkeit fassen. Die Pipettier-, Misch- und Messarbeiten werden von Robotern geleistet. Diese schaffen bis zu 300.000 Substanz Tests pro Tag – weit mehr als ein einzelner Arzneiforscher früher in seinem ganzen Arbeitsleben. Meist zeigt jede zweihundertste bis tausendste Substanz tatsächlich einen Effekt. Pharmaforscher sprechen dann von einem Hit, einem Treffer. Fast immer sind die Hit-Substanzen nur Ausgangspunkt für die Erarbeitung besserer Substanzen, selbst aber nicht für die Behandlung von Patienten geeignet. Nur sehr selten kommt es vor, dass eine Hit-Substanz unverändert alle nachfolgenden Tests besteht und schließlich zum Wirkstoff eines Medikaments wird.
Und wie wird aus einem Hit dann ein Medikament?
Eine Substanz, die als Wirkstoff taugen soll, muss viele weitere Eigenschaften haben, um später die Zulassung zum Medikament zu erhalten. Sie sollte beispielsweise nicht völlig wasserunlöslich sein und im Körper möglichst nur auf das Target einwirken (nicht auch auf viele andere Moleküle). Soll die Substanz als Tablette eingenommen werden, muss sie den Weg aus dem Darm bis zu der Stelle, an der sie wirken soll, unbeschadet zurücklegen können. Mehrere Jahre lang arbeiten Forscher daran, die Substanz Zug um Zug so zu verändern, dass sie immer besser allen diesen Anforderungen genügt. Dazu fügen sie hier Atome hinzu, nehmen dort Atome weg und unterziehen das so entstandene neue Molekül jedes Mal zahlreichen Labortests, um zu sehen, ob es besser als sein Vorläufer geworden ist.
Computersimulationen unterstützen die Forscher dabei. Sie können jedoch Tests am lebenden Organismus nicht ersetzen. Immer wieder sind auf dem Weg zur Zulassung eines Medikaments auch Tierversuche nötig. Hier wird geprüft, ob die neu geschaffene Substanz lange genug unverändert im Körper bleibt, um wirken zu können. Ist das nicht der Fall, weil sie von körpereigenen Enzymen zu schnell abgebaut wird, muss die Abbau-empfindliche Stelle im Molekül gefunden und verändert werden.
Sind diese Substanzen so weit, dass sie sich als Wirkstoff anwenden lassen, dann wird sie üblicherweise zum Patent angemeldet. Von da an gelten sie als Wirkstoffkandidaten und können in die vorklinische Entwicklung gehen.
Wie weit ist es dann zum Medikament?
Noch sehr weit! Bevor ein Wirkstoff mit Menschen erprobt werden kann, muss er noch ein umfassendes Prüfprogramm bestehen: die vorklinische Entwicklung. Dazu gehören insbesondere Tests auf mögliche schädliche Wirkungen: Toxikologen untersuchen dabei, ob der Wirkstoffkandidat giftig ist, ob er Krebs auslösen kann oder Veränderungen des Erbguts hervorruft. Manches davon kann im Labor oder mit Zellkulturen untersucht werden. Darüber hinaus sind bestimmte Versuche mit mindestens zwei Tierarten gesetzlich vorgeschrieben. Für eine Erprobung am Menschen kommen nur Wirkstoffe in Frage, die sich in Tierversuchen bewährt haben. Bis zum Abschluss der vorklinischen Tests sind bis hierhin oft bereits mehr als fünf Jahre seit Projektbeginn vergangen.
Wie funktioniert die klinische Entwicklung?
Wenn ein Wirkstoffkandidat alle vorklinischen Tests positiv abgeschlossen hat, kann er erstmals am Menschen untersucht werden. Damit beginnt der Abschnitt der so genannten klinischen Prüfungen bzw. klinischen Studien. Das wäre der letzte Schritt vor der Zulassung des Medikamentes.
Die Vorgehensweise gliedert sich dabei grundsätzlich in drei Phasen:
- Phase I – Untersuchung mit wenigen Gesunden,
- Phase II – Untersuchung mit wenigen Kranken,
- Phase III – Untersuchung mit vielen Kranken.
Für jede Studie ist die Zustimmung der zuständigen nationalen Behörden und der Ethik-Kommissionen nötig. Ethik-Kommissionen bestehen aus erfahrenen Medizinern, Theologen, Juristen und Laien. Sie wägen ab, ob und unter welchen Auflagen die geplante Studie aus ethischer, medizinischer und rechtlicher Sicht durchgeführt werden kann. Sie achten dabei insbesondere auf den Schutz der Teilnehmer. Sie prüfen auch, ob die medizinischen Einrichtungen und ihre Ärzte, die an der Studie mitwirken wollen, für die Studie geeignet sind.
Jeder an der Teilnahme interessierte Proband (gesunder Freiwilliger) oder Patient muss umfassend über die geplante Studie und mögliche Risiken aufgeklärt werden. Wer sich daraufhin zur Teilnahme entschließt, gibt schriftlich sein Einverständnis, das er aber jederzeit ohne Angabe von Gründen widerrufen kann. Sollte es während der klinischen Studie zu unvertretbaren Nebenwirkungen kommen oder sich eine ungenügende Wirksamkeit zeigen, wird die Studie abgebrochen.
Für jede Studie der Phase II oder III werden vor Beginn gewünschte Behandlungsergebnisse festgelegt. Häufig wird in Studien beobachtet, dass ein Medikament bei einem Teil der Patienten anders dosiert werden muss oder gar nicht anschlägt oder dass es von manchen Patienten schlechter vertragen wird als von der Mehrheit. Deshalb wird zunehmend begleitend zu den Studien nach Merkmalen gesucht, anhand derer ein Arzt schon vor der Verordnung erkennen kann, dass sein Patient zu dieser Gruppe zählt und die Behandlung darauf abgestimmt werden sollte. Solche Merkmale nennt man Biomarker. Für einige Medikamente ist bereits heute vorgeschrieben oder empfohlen, dass sie ein Patient erst nach Überprüfung solcher Biomarker erhalten darf.
Gibt es Unterschiede für Kinder und Erwachsene?
Ja, denn Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen! Jedes neue Medikament muss in Europa bei Minderjährigen untersucht und bei positivem Ergebnis für diese zugelassen werden, wenn die betreffende Krankheit nicht nur Erwachsene betrifft. Für welche Altersgruppen genau und in welchen Darreichungsformen, verfügt das Paediatric Committee der europäischen Arzneimittelagentur EMA. In der Regel werden die Studien mit Minderjährigen erst begonnen, wenn zumindest die Phase-II-Studien mit Erwachsenen abgeschlossen sind. Nur bei lebensbedrohlichen Krankheiten kann es geboten sein, das Medikament zeitgleich bei Erwachsenen und Minderjährigen zu untersuchen.
Ist ein Arzneimittel für Männer und Frauen vorgesehen, wird es auch mit Patienten beiderlei Geschlechts erprobt. Das ist seit Anfang der 90er Jahre internationale Praxis und mittlerweile auch gesetzlich vorgeschrieben. Zwar werden Studien der Phase I oft nur mit Männern durchgeführt, ab Phase II werden dann Frauen in ausreichender Zahl einbezogen.
Wann wird ein Medikament endgültig zugelassen?
Waren alle klinischen Studien erfolgreich, kann bei den Behörden die Zulassung beantragt werden. Für Länder der Europäischen Union passiert dies bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) in Amsterdam, in einigen Fällen auch bei einer nationalen Zulassungsbehörde stellen. Die Bearbeitung eines Zulassungsantrags für ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff kostet bei der EMA im einfachsten Fall rund 260.000 Euro.
Mit dem Zulassungsantrag müssen Unterlagen über die technische Qualität des Arzneimittels und sämtliche vorklinischen und klinischen Studienergebnisse eingereicht werden. Ausgedruckt wären dies mehr als 500.000 Seiten.
Die eigentliche Zulassung der Medikamente erteilt dann etwa zwei bis drei Monate später die Europäische Kommission. Nach der Zulassung der Medikamente kann ein Präparat in Deutschland unverzüglich Ärzten und Patienten zur Verfügung gestellt werden. In vielen anderen Ländern Europas ist das erst nach Verhandlungen über die Erstattung durch das Gesundheitssystem der Fall. In Deutschland werden ebenfalls Preisverhandlungen geführt, jedoch erst, nachdem das Präparat den sogenannten AMNOG-Prozess durchlaufen hat, der rund ein halbes Jahr dauert. Meist sind bei der Markteinführung eines Medikaments weit mehr als zehn Jahre seit Projektbeginn vergangen.
Ist dann die ganze Prozedur um das Medikament endlich beendet?
Nein, es folgt noch eine „Phase IV“. Nach der Zulassung der Medikamente beobachten Pharmaunternehmen und Behörden das neue Medikament weiter sehr aufmerksam. Denn in Studien vor Zulassung werden ggf. sehr seltene Nebenwirkungen nicht erkannt. Werden Nebenwirkungen oder Zwischenfällen bei der Anwendung bekannt, wird dies den Gesundheitsbehörden mitgeteilt und im Sinne der Sicherheit der Patienten Maßnahmen ergriffen. Bei größeren Risiken werden in Abstimmung mit den Behörden über ein Schnellwarnsystem die Ärzte und Apotheker unterrichtet.
Schafft es jedes Medikament bis zur Zulassung?
Keineswegs! Nicht jedes Projekt zur Entwicklung eines neuen Medikaments endet mit einer erfolgreichen Markteinführung. Die Mehrzahl der Projekte muss vorzeitig beendet werden. Von 5.000 bis 10.000 Substanzen, die nach dem Screening hergestellt und untersucht werden, kommen im Durchschnitt nur 9 in ersten klinischen Studien zur Erprobung. Nur ein Wirkstoff kommt tatsächlich später in die Apotheke. Eingestellt werden Projekte beispielsweise, weil das neue Präparat nicht genügend wirksam oder seine Nebenwirkungen zu belastend sind.
Was kostet die Entwicklung eines neuen Medikamentes?
Pro zugelassenem Medikament mit neuem Wirkstoff muss ein Unternehmen Kosten von ungefähr 1 Milliarde Euro veranschlagen. Mehr als die Hälfte der Ausgaben entfallen auf die klinische Entwicklung, insbesondere die logistisch extrem aufwendigen, multinationalen Phase-III-Studien. Erst nach der Markteinführung besteht die Chance, Investitionen über den Einsatz des Medikamentes zu amortisieren.